Vadian der Reformator

Die st. gallische Reformation ist nicht denkbar ohne Vadian. Dank ihm wurde sie in erster Linie überhaupt durchgeführt. Ohne ihn hätte sie sich in den Wirrnissen der Zeit wohl gar nicht behaupten können. Wer war er?

Vadians Kindheit

Vadian wurde vermutlich im Jahr 1484 geboren. Er und Zwingli waren also wahrscheinlich Jahrgänger. Vadian – oder wie er eigentlich richtig hiess: Joachim von Watt – war Spross einer bedeutenden St. Galler Kaufmannsfamilie. Als Teilhaber der Diessbach-Watt’schen Handelsgesellschaft hatte sie viel zur Verbreitung der St. Galler Leinwand in aller Welt beigetragen. Ausserdem hatte sie der Stadt auch etliche hohe Politiker bis hinauf zum Bürgermeister gestellt.

Der junge Joachim war intellektuell begabt. Er wurde in die städtische Lateinschule geschickt, wo er Rechnen, Lesen und Schreiben lernte, «frömd und haimsch» d.h. lateinisch und deutsch. Hauptfach war die lateinische Grammatik, weil das Ziel der Lateinschule die vollkommene Beherrschung dieser Sprache war. Wie Vadian selbst erzählt, ging das nicht ohne häufige Prügel ab. Es gehörte zu den Pflichten der Schüler, in den Gottesdiensten des Münsters zu singen.

Wiener Jahre

Mit siebzehn Jahren, für damalige Begriffe eher spät, zog Vadian an die berühmte Universität der Kaiserstadt Wien. Schon aus dem vorangehenden Kapitel geht hervor, dass er möglicherweise dort die Bekanntschaft seines Landsmannes Zwingli machte. Vadians erstes Semester im Winter 1501/02 fällt mit Zwinglis letztem zusammen.
Wie alle Studienanfänger schrieb sich Vadian an der artistischen Fakultät ein, wo er seine Kenntnisse in lateinischer Grammatik und Literatur erweiterte. Im Jahr 1508 errang er den obersten Titel, den die artistische Fakultät verleihen konnte: den eines Magisters.

 

Die Universität Wien stand damals im Umbruch. Eine moderne, dem Geist der Renaissance verpflichtete humanistische Richtung kämpfte gegen die Vertreter der mittelalterlichen Schulphilosophie, welche in der artistischen Fakultät nur eine Vorstufe der höheren theologischen Fakultät erblicken wollten (nach mittelalterlicher Auffassung waren alle Wissenschaften Dienerinnen der Theologie).

Vadian zögerte nicht, sich der avantgardistischen humanistischen Richtung anzuschliessen. Er zählte sich fortan zu jenen Gelehrten, welche die Beschäftigung mit der antiken, vorab mit der lateinischen Literatur zu einem Selbstzweck und zu ihrem Lebensinhalt machten. Sie bewunderten die Weisheit und Eleganz der nichtchristlichen Denker des Altertums. Ja, sie bemühten sich, tausend Jahre nach dem Untergang des Römischen Reiches eine neulateinische Kultur aufzubauen.
So fingen sie selbst an, in lateinischer Sprache zu dichten. Äusseres Merkmal der Hinwendung des jungen St.Gallers zum Humanismus war seine Namensänderung. Aus Joachim von Watt wurde lateinisch Joachimus Vadianus (heute pflegt man meist abgekürzt Vadian zu sagen).

Schritt um Schritt erklomm Vadian die Stufen einer glanzvollen Gelehrtenlaufbahn. Er wurde Professor an der artistischen Fakultät und erhielt im Jahr 1516 sogar deren wichtigsten Lehrstuhl. Während er selber immer weiter lernte, war er gleichzeitig Lehrer. Mit Kollegen und Schülern zusammen lebte er in klosterähnlicher Wohngemeinschaft. Für einen damaligen Professor war es nicht üblich, zu heiraten. Vadian kümmerte sich väterlich um manchen seiner Studenten, so um seinen späteren Schwager Konrad Grebel und um Jakob Zwingli, Ulrichs jüngeren Bruder.

In echt humanistischer Weise verfasste Vadian eine grosse Anzahl lateinischer Schriften in Versen und in Prosa. Vieles davon ist im wortreichen humanistischen Durchschnittsstil rasch hingeworfen worden. Es befinden sich darunter aber auch ein so geistreiches und witziges Werklein wie der «gallus pugnans» und ein so gewichtiges Buch wie «De Poetica et Carminis ratione». Das erstere ist eine Art «Prozess» zwischen Hühnern und Hähnen und deren Anwälten, wobei sich die Hühner in recht emanzipierter Art über die streitsüchtigen Hähne lustig machen. Das letztere ist eine umfassende Literaturgeschichte.

Zum Schreibenkönnen gehörte das Redenkönnen. Als im Jahr 1515 in Wien eine internationale Fürstenkonferenz stattfand, fiel Vadian die Ehre zu, die Begrüssungsansprache an den König von Polen zu halten!

Wie viele Zeitgenossen sehnte sich Vadian nach dem grössten denkbaren Humanistenruhm: sich «poeta laureatus», d.h. «mit Lorbeer gekrönter Dichter», nennen zu dürfen. Im Jahr 1514 war das Ziel erreicht. In einer feierlichen Zeremonie verlieh Kaiser Maximilian dem vor ihm knienden Vadian den immergrünen Dichterkranz (mangels Lorbeer war er aus Buchs!), den Dichterring und das Poetendiplom. Noch bedeutsamer war, dass Vadian im Wintersemester 1516/17 für würdig befunden wurde, das höchste Amt der Universität, das Rektorat, zu bekleiden.

Vadian beschäftigte sich nicht nur mit Literatur. Er Verkörperte vielmehr den Typus eines Universalmenschen, wie er in der Renaissancezeit als Vollendung des menschlichen Daseins angestrebt wurde. Vadian bildete sich zum Fachmann in vielen Wissensgebieten aus. Er studierte Geographie und versuchte zu diesem Zweck möglichst viele Gegenden aus eigener Anschauung kennenzulernen. Er unternahm Reisen nach Italien, Ungarn und im Jahr 1519 (schon von St. Galler aus) nach Deutschland, Schlesien und Krakau. Auch bestieg er den Pilatus bei Luzern, um zu erforschen, was es mit dem sagenumwobenen Pilatusseelein auf sich habe, wobei ihm entgegen allen Warnungen der Einheimischen nichts passierte!

Gute Kenntnisse erwarb er sich in Mathematik und Astronomie.
Auch die Musik hatte es ihm angetan; eine Zeitlang wirkte er sogar als Lehrer der Wiener Sängerknaben. Im Jahr 1512 begann er neben seinen sonstigen Verpflichtungen mit dem Medizinstudium, das er im Jahr 1517 mit dem Doktorgrad abschloss.

Die Rückkehr nach St. Gallen

Doch damit stehen wir bereits am entscheidenden Wendepunkt in seinem Lebenslauf. Der Entschluss zum Medizinstudium stand im Zusammenhang mit Gedanken an eine mögliche Heimkehr in die Vaterstadt. Wollte er sich in St.Gallen niederlassen, musste er einen praktischen Beruf ausüben. Alle seine humanistischen Titel nützten ihm nichts in der Heimat.

Vadian hatte sich zu einem der berühmtesten Humanisten nördlich der Alpen emporgearbeitet. Doch im Jahr 1518 verliess er seine bisherige Wirkungsstätte Wien und kehrte in das kleine, bescheidene St.Gallen zurück. Was bewog ihn dazu? Wie ist dieser auffallende Knick in seiner Lebenslinie zu erklären? Fest steht zunächst, dass Vadian seine Heimatstadt sehr liebte und sich als Schweizer fühlte.
Es schwebte ihm vor, die bisher nur durch ihre Kriegstüchtigkeit bekannt gewordene Schweiz in eine Stätte der Gelehrsamkeit umzuwandeln. Seine zukünftige Rolle sah er als praktischer Arzt, aber auch als Berater, Helfer und Erzieher seiner Stadt und der ganzen Eidgenossenschaft. Vadians Heimkehr steht in keinem unmittelbaren Zusammenhang mit der eben damals in Deutschland beginnenden Reformation. Doch er scheint gespürt zu haben, dass die humanistischen Ideale am Verblassen und neue Ideale im Kommen waren. Die humanistische Betriebsamkeit, diese Wissenschaft um der Wissenschaft willen, befriedigte ihn auf die Dauer nicht. Im Jahr 1530 hat er seine einst so heiss begehrte Dichterkrönung als «juvenilis insania», d.h. als «jugendliche Verrücktheit», abgetan. Ein schlichtes, aber lebensnahes Dasein in St.Gallen zog ihn auf die Dauer mehr an als das grossartige, aber etwas künstliche und weltfremde Gelehrtenleben in Wien.

Bald nach seiner Rückkehr wurde Vadian, wie er es gehofft hatte, zum Stadtarzt und allgemeinen Ratgeber berufen. Jetzt konnte er ans Heiraten denken. Seine Ehefrau wurde Martha Grebel, die aus dem Zürcher Stadtadel stammte. Heiratsvermittler war ihr Bruder, Vadians Freund Konrad Grebel, der wenige Jahre später in der täuferischen Bewegung eine führende Rolle spielen sollte. Im Frühling 1520 bezog Vadian mit seiner Frau das Haus «Zum tiefen Keller» in den Hinterlauben. Dort wurde die Tochter Dorothea, «Durlin» genannt, geboren. Mit Vadians Eintritt in den Kleinen Rat als Nachfolger seines verstorbenen Vaters im Sommer 1521 begann auch seine politische Laufbahn.

Nebenbei hatte Vadian noch genügend Zeit, seine Studien weiterzutreiben. Er begann, sich mit theologischen Fragen zu beschäftigen und las Lutherschriften und Bücher anderer Reformatoren. In seiner Gewissenhaftigkeit besorgte er sich aber auch Publikationen der Gegner der beginnenden Reformation. Mehrere Jahre hielt er sich nach aussen still. Man wusste nicht, was er dachte und wo er stand. Er liess sich nicht drängen und wollte seine Entscheidung – und die musste so oder so erfolgen – in Ruhe überlegen. Er war alles andere als von einem Tag zum nächsten Feuer und Flamme für die Reformation.
Eines nur lässt sich sagen: Vadian, der ja Laie (d.h. nicht Priester) war, eignete sich in diesen Jahren Kenntnisse in theologischen Fragen an, wie sie wenige zeitgenössische Kirchenmänner besassen.

MARIANNE UND FRANK JEHLE:
Kleine St. Galler Reformationsgeschichte, Viertes Kapitel
Herausgegeben vom evang.-ref. Kirchenrat des Kantons St. Gallen
St. Gallen: Zollikofer Fachverlag AG, 1977
ISBN 3-85993-012-5